Ferdinand I. von Bulgarien

Von Professor Adolf Strauß.

Um König Ferdinand als Diplomaten zu verstehen, muß man ihn als Menschen kennen. Nur wenn man die nicht gewöhnliche Fülle feiner rein menschlichen Werte kennt, läßt sich der Diplomat auf dem Königsthron richtig werten. König Ferdinand ist ein Gelehrter. Ein wissenschaftlicher Kopf, der sich in vielen Disziplinen umgetan und der sich namentlich für die Naturwissenschaft und insbesondere für die Botanik und Ornithologie spezialisiert hat. Seine botanischen Sammlungen gehören zu den bedeutendsten ihrer Gattung und als Ornithologe hat er für die Wissenschaft manches geleistet. Aus diesem Hang zum Gelehrtentum heraus ist auch seine kulturelle Tätigkeit in Bulgarien zu verstehen. Unter seiner Herrschaft blühte das bulgarische Schulwesen zu einer Höhe empor, die sich auch im Westen sehen lassen darf. Nicht selten inspizierte der König persönlich den Unterricht an den Hochschulen, wohnte den Vorträgen bei und gab den Professoren in seiner Disziplin manchen wertvollen Wink. Das naturwissenschaftliche Museum ist seine Schöpfung und seiner Initiative ist auch die Schaffung einer Lehrkanzel für Kunst an der Sofioter Universität zu danken. Er hat den Sinn für die bedeutenden Literaturen des Auslandes in Bulgarien geweckt und gehegt. Es gibt fast keinen bedeutenden Klassiker, der nicht auch durch tadellose Übersetzungen dem bulgarischen Volke zugänglich gemacht worden wäre.

Eine seiner ersten Anregungen war auf diesem Gebiete die bulgarische "Faust"-Übersetzung. Auch für die dramatische Kunst zeigt er großes Interesse. Er hat das Nationaltheater in Sofia geschaffen, aber er betrachtete die ausländische Kunst nur als ein Ferment zur Hegung und Entwicklung der heimischen Kunstproduktion. Er war sich stets bewußt, daß ein Volk, eine Nation Ursprüngliches nur aus sich selbst heraus leisten könne, und deshalb förderte er die bulgarische Kunst, die eine Mischung byzantinischer und slawischer Elemente darstellt, mit großem Verständnis. Immer wieder aber zieht es ihn zur Naturwissenschaft zurück. Als Sultan Abdul Hamid ihn anläßlich seines Besuches in Konstantinopel nach seinen Wünschen fragte, erwiderte König Ferdinand: "Ich habe nur einen einzigen Wunsch: frei und ungestört in Kleinasien botanisieren zu dürfen." König Ferdinand ist ein Mann umfassender Bildung. Er beherrscht alle europäischen Sprachen und gilt in seinem Lande als der hervorragendste bulgarische Redner. Er spricht mit seinen griechischen Untertanen Griechisch, mit seinen Spaniolen Spaniolisch. Seine deutsche Aussprache ist ein echtes Burgtheaterdeutsch. König Ferdinand ist ein gewiegter Menschenkenner. Er ist im Umgang überaus leutselig, liebt es aber, seine Umgebung bis auf die Nieren zu prüfen. Er hat Leute, die ihm in eigenhändigen Briefen mit dem Tode drohten, in den höchsten Ämtern angestellt, weil er der Überzeugung war, daß diese Männer auf ihren Posten etwas leisten können und weil er ihnen zur rechten Zeit zu verzeihen wußte. Das ist vielleicht das charakteristischste Merkmal seiner Menschlichkeit. Der Zar der Bulgaren ist von einer Toleranz, die ihn zu dem Beherrscher aller Neußen in wohltuenden Gegensatz stellt. Der König ist auch eine rastlose, unermüdliche Arbeitskraft. Seiner nächsten Umgebung ist es ein Rätsel, wann der Herrscher der Nachtruhe pflegt. Nicht selten ruft er nach Mitternacht die Referenten zur Arbeit in sein Appartement. Bei meiner jüngsten Audienz wies der König lächelnd auf einen Aktenstoß, der etwa hundert Aktenstücke enthalten mochte, und sagte (es war gegen Mitternacht): "Das wird alles noch jetzt erledigt." König Ferdinand steht fast mit allen europäischen Herrscherhäusern in verwandtschaftlichem Verhältnis. Diese Verwandtschaften waren ihm in seiner Herrscherlaufbahn von großem Vorteil. Ferdinand von Koburg wurde, als er die Nachfolgerschaft Alexanders von Battenberg angetreten hatte, in Bulgarien niemals als ein Fremdling betrachtet. Ich selbst konnte nach der Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien, an der ich tätigen Anteil genommen, bestätigen, daß der Koburger bei seinem Einzug in Bulgarien von dem bulgarischen Volke mit Ehrfurcht und Vertrauen begrüßt wurde. Ja, man kann sagen, das Vertrauen, das das bulgarische Volk dem jungen Honvedoberleutnant von damals entgegenbrachte, war tiefer und größer, als das der europäischen Nationen, die dem neuen Fürsten Patenschaft gestanden hatten. Und als sich dann später König Ferdinand in Tirnowo die Zarentrone aufs Haupt setzte, da wurde dieser Akt von der ganzen Welt als ein Ereignis von historischer Bedeutung gefeiert. Als Fürst Ferdinand die Regierung übernahm, war sein ganzes Land unter russischem Einfluß. Der Nimbus des Zarbefreiers strahlte noch übermächtig, das bulgarische Volk sah mit einer gewissen Ehrfurcht zu dem Petersburger Machthaber empor. König Ferdinand hat Bulgarien auf seine eigenen Füße gestellt. Er hat aus einem russischen Bulgarien ein bulgarisches Bulgarien gemacht, das bulgarische und nicht russische Interessen vertritt. Jetzt, nach dreißig Jahren, sieht er sein Riesenwerk von Erfolg gekrönt. Bulgarien hat das russische Joch endgültig abgeschüttelt, das größere Bulgarien ist gegen den Zaren im Entstehen begriffen. Dem bulgarischen Charakter hat sich König Ferdinand, wie selten ein stammesfremder Fürst, assimiliert. Bulgarisch sind fein hoher politischer Ernst, seine Zielfestigkeit, sein antiker Gleichmut im Ertragen des Unglücks und seine Würde in den Stunden des höchsten Triumphes. Bulgarien hat in den zwei Balkankriegen Stunden des höchsten Glückes und des tiefsten Kummers erfahren. In beiden Lagen haben sich Bulgarien und sein Herrscher der Geschichte in würdevoller Größe gezeigt. Es war in der ruhmreichen Zeit, da das bulgarische Heer zwischen Adrianopel und Tschataldscha stand. König Ferdinand erschien bei einem Brückenkopfe am Tschorlubach; auf der anderen Seite des Baches hatte sich der türkische Kriegsminister eingefunden. Hier spielte sich eine Szene ab, die mir König Ferdinand selbst erzählte und die ich als Charakteristik seiner Persönlichkeit diesem Bilde einfügen will: "Ich sagte", so teilte mir der König mit, "dem türkischen Kriegsminister, daß es mir im Herzen wehe tue, einem so braven Volke wie dem türkischen mit dem Schwerte in der Hand entgegentreten zu müssen. Ich schätze die Türken sehr hoch und ich will ihnen hierfür auch einen Beweis geben. Ich sehe, wie das türkische Heer unter der Cholera leidet. Stellen sie hier, am Tschorlubache, der choleraverseucht ist, Wachen auf und verbieten Sie bei Todesstrafe, aus dem Bache zu trinken." Der König erzählte mir noch, daß er eine große Menge Tee dem Feinde geschickt habe, damit die Cholerakranken gelabt werden könnten. In seinem eigenen Heere erwarb sich König Ferdinand bei der Bekämpfung der Cholera unvergängliche Verdienste. Es kam die Zeit des Unglücks. Es war nach dem Bukarester Frieden, als ich vor dem König erschien. In dieser Zeit stand er vielleicht auf der höchsten sittlichen Höhe seiner Herrscherlaufbahn, aber trotz der entsagungsreichen Stimmung lebte in ihm die feste Zuversicht auf eine bessere Zukunft. Er war ruhig und gefaßt, er wußte, daß er die bulgarische Nation einer Reife entgegengeführt hatte, die antimonarchische Wirren und Revolutionen ausschloß. Das bulgarische Volk ertrug sein Mißgeschick mit Heroismus, denn es fühlte, daß die Zeit der endgültigen Abrechnung kommen müsse. In jenen Tagen des gemeinsamen Wehs haben die bulgarische Nation und ihr Herrscher einander vollkommen verstehen gelernt. Das bulgarische Volk ist sich dessen bewußt, daß es in seinem Herrscher eine Persönlichkeit besitzt, die sich das Vertrauen der Nation durch schier übermenschliche Arbeit, durch Zielbewußtsein und Entsagung verdient hat. Als oberster Kriegsherr ist der König der Bulgaren Liebling seines Heeres. Erst seit seinem Regierungsantritte kann überhaupt von einem regulären, disziplinierten bulgarischen Heere gesprochen werden. Als er den Fürstenthron bestieg, hatte Rußland in perfider Weise das bulgarische Heer vernichtet, indem es sämtliche russischen Offiziere zurückzog. So war das bulgarische Heer ohne Offiziere geblieben. König Ferdinand schuf ein gebildetes Offizierkorps und sicherte ihm auch die nötige Autorität. Er ist der Vater und Lehrer seines Heeres, der die Armee mit ungeheurem Fleiß bis zu der heutigen, von der ganzen Welt anerkannten Höhe emporgebracht. König Ferdinand selbst befaßt sich mit Vorliebe auch mit militärischen Studien. Er unternimmt nie eine Reise, ohne eine kleine militärische Bibliothek mitzuführen. Wer mit dem König zu reisen Gelegenheit hatte, der mußte stetsüber die Menge von Landkarten staunen, die im bunten Durcheinander im Salonwagen verstreut lagen. In dreißigjähriger mühevoller Arbeit hat er sein Land politisch und militärisch für die großen entscheidungsvollen Stunden der Gegenwart erzogen. Er kann der letzten Entscheidung ruhigen Gewissens und mit der unerschütterlichen Hoffnung auf vollen Erfolg entgegensehen. Politisch und militärisch ist die Saat König Ferdinands in die Halme geschossen. Das gößere Bulgarien rüstet sich in jubelnder Zuversicht, die herrliche glorreiche Ernte einzuheimsen.